Jetzt und in der Stunde meines Todes - von Stephanie Doms

Wie eine Rückführung erlebt werden kann, schreibt Stephanie Doms - Yoga-Lehrerin, Werbetexterin und Lektorin.

Vielen Dank liebe Stephie, für die Möglichkeit, deinen Text zu veröffentlichen!

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Die Katze durchquert den kargen Raum mit den weißgekalkten Wänden. Lautlos schweben ihre Pfoten über die hellbraunen Holzdielen. Mit ihrem

weiß-braun gescheckten Kleid fügt sie sich harmonisch in ihre Umgebung. Alles eins, in verschiedenen Formen, denke ich. Die Katze schmeichelt um meine nackten Beine, tappt wie absichtlich immer wieder auf meine weißen Holzschuhe, als möchte sie tanzen. Langsam gehe ich in die Knie, um sie zu streicheln. Ruppig fühlt sich ihr Fell zwischen meinen alten, faltigen Fingern an. Weiße Haarsträhnen fallen mir ins Gesicht und ich spüre, dass der Tod näher ist als mein nächster Geburtstag.

 

Lange hocke ich so auf der Türschwelle und streichle die Katze. Ich bemerke, dass ich lächle, und die Traurigkeit über meine vor langer Zeit selbstgewählte Einsamkeit löst sich in diesen Berührungen sacht auf. Angenehme Wärme breitet sich von innen heraus aus. Eine Wärme, die ich aus längst vergangenen Zeiten kenne. Mit einem Mal bin ich wieder ein kleines Kind, ein rosiges Baby. Mein Bauch ist rund und warm, ich fühle mich satt und zufrieden.

Es ist Nacht, doch ich schlafe nicht. Munter schaue ich mich in dem Raum um, der in tiefer Dunkelheit im obersten Stock des Hauses meiner Kindheit liegt. Meine leichten Bewegungen schaukeln die dunkelbraune Wiege, in der ich liege.

Ich höre die ruhigen Atemzüge meines Vaters. Meine Wiege steht nah an der Seite seines Bettes. Neben ihm die Ahnung einer Frau, seiner zweiten. Ein schlafender Rücken, der nichts Böses hat. Alles ist friedlich und voller Liebe, als würden mein Vater und ich uns durch den Schlaf hindurch zulächeln. Es ist drei Stunden vor

meinem Tod. Ich habe mich vorbereitet. Doch jetzt, da es so weit ist, bin ich nicht sicher, ob ich schon gehen kann. Zu deutlich sind noch die Erinnerungen.

 

Die Katze vor meinen Augen verschwimmt in hochschlagenden Wellen. Die verblasste, ausgefranste Fotografie meiner Mutter – zerdrückt durch die vielen Berührungen meiner kleinen, sehnenden Kinderhände – sinkt erst langsam, dann immer schneller taumelnd zum Grund. Die Wellen sind so nahe, als

schwebte ich nur eine Handbreit darüber. Ich möchte die Hand ausstrecken und das Bildnis an mich reißen, doch ich bin unfähig mich zu bewegen, und mit einem schmerzhaften Gefühl der Zerrissenheit muss ich zusehen, wie ich ein weiteres Mal in meinem Leben etwas verliere, das von Anfang an nie da gewesen ist. Es

ist die Stunde meines Todes und ich sinke in tiefe Traurigkeit.

 

Ich sehe nichts mehr von meinem wenigen Besitz in dem Raum, in dem ich mich befinde. Eine große Leere hat sich ausgebreitet und die Einsamkeit zerrt plötzlich wieder mit starren, kalten Fingern an mir. An meinen dünnen Leinenkleidern zieht es mich nach Deutschland, dorthin, wo meine Brüder leben, mit ihren Familien, ihren vielen Kindern. Auch meine Onkeln und Tanten, sie alle sind gegangen. Es fühlt sich an, als hätten sie mich zurückgelassen, doch ich weiß, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. In meiner Erinnerung bin ich schnell gewachsen. Aus dem rosigen Baby ist ein Mädchen mit festem Blick geworden. Ich knie auf dem Boden in der Küche meines Vaters. Geschäftig schrubbe ich die Dielen, tauche die Bürste immer wieder in den Holzeimer mit Wasser. Später würde ich die weißen Laken zum Trocknen über die Leine in der Küche hängen, nahe beim Ofen, wo ich das Essen zubereiten würde. Es ist ein angenehmes, erfüllendes Gefühl für meinen Vater zu sorgen, für ihn da sein zu können. Im nächsten Augenblick, ich bin nun ein paar Jahre älter, sehe ich mich mit meinen Brüdern im Schoß. Ich genieße es, ihre kleinen Köpfe mit dem dünnen,

schwarzen Haar zu streicheln. So rund, so warm, so weich. Ich schaukle sie, diese beiden kleinen Körper, die einander glichen wie ein Ei dem anderen, in meinen Armen, wie eine Mutter. Einst liebte ich meine Brüder so innig, dass es mein Herz schier zerspringen ließ. Diese Liebe war größer gewesen als das Gefühl des Neides, weil sie noch hatten, was ich nie hatte erleben dürfen. Ich war ein glückliches Kind, trotz allem, denke ich jetzt und spüre die Dankbarkeit tief in mir. Die zweite Frau meines Vaters war immer gut zu mir gewesen, bis zum Ende fern, in gewisser Weise, doch sie hatte bestmöglich für mich gesorgt. Es hat mir an nichts gefehlt, denke ich. An nichts? Es ist fünf Minuten vor meinem Tod und eine entsetzliche Angst erfasst mich. Ich liege auf dem Boden und krümme mich. Als wäre sie Teil eines fremden Körpers, spüre ich die Übelkeit. Große Angst hat mich erfasst. Ich möchte mich erbrechen und ziehe die Beine fest zur Brust, umklammere sie mit meinen Armen. Immer wieder winde ich mich aus meiner eigenen schmerzvollen Umarmung heraus.

 

Wieder sehe ich mich die Hand zum Wasser ausstrecken. Ich bin nun eine junge Frau. Meine langen, blonden Haare locken sich zur Oberfläche hin. Ich liege über dem Rand des kleinen Holzbootes. Es schwankt. Die Stimmung scheint ausgelassen, auf den ersten Blick scherzhaft. Warum lachst du nicht? Auch jetzt mischt sich diese Frage hin und wieder noch in mein Denken. Doch die Gefühle waren andere, damals wie heute. Ich hatte Angst gehabt. Angst vor diesem tiefen, dunklen Wasser unter mir. Doch noch mehr Angst vor meinen

Brüdern, zwischen denen ich eingeengt im Boot kniete. Was wollten sie von mir? Ich konnte es nicht verstehen. Sie waren doch meine Brüder. Sie waren doch meine Brüder – auch heute ist es für mich unbegreiflich und manchmal glaube ich, dass ich es gewesen bin, die einen Fehler begangen hat. Es fühlt sich an, als wäre ich aus dem Boot gestoßen worden, doch ich bin selbst hinab getaucht, das weiß ich und das ist wichtig für mich. Die Angst vor dem Wasser war kleiner gewesen als die Angst davor, im Boot zu bleiben. Der letzte Blick auf meine Brüder, bevor ich mich befreite: Sie sitzen wie versteinert, wie tot, mit großen, schwarzen Hüten und schwarzen Bärten und starren mich aus lieb- und leblosen Augen an. Was ist nur aus uns geworden? Dann ziehen meine schweren, nassen Kleider an mir. Das schöne, blonde Haare, die ordentlichen Kleider, die schönen neuen, pechschwarzen Schuhe – alles sinkt in die Tiefe wie ein Stein und ich denke an meine Mutter. Ich tauche auf und die Gewissheit, dass ich mich befreien konnte, lässt alles ganz leicht werden. Ich spüre auch das Gewicht meiner Kleider gar nicht mehr an mir, während ich zum Ufer schwimme, auf den dunklen Wald zu, die kleine Hütte zwischen dem gelb und trocken gewordenen

Herbstschilf. Da wusste ich schon mit aller Deutlichkeit, dass kein Weg zurückführen würde.

 

Doch jetzt ist es eine Minuten vor meinem Tod und dass ich meine Beine nicht mehr spüre, erfüllt mich mit entsetzlicher Panik. Ich will zurücklaufen, will zu meinen Brüdern laufen und beilegen, worüber seit jenem

Tag auf dem Boot nie wieder gesprochen worden war. Wir haben uns von einem Moment zum nächsten entfremdet, entfernt, auch räumlich. Ich weiß, der Weg ist zu weit, und auch wenn ich meine Beine noch hätte: Nichts mehr könnte die Distanz überbrücken, die uns vor Jahrzehnten auseinandergerissen hat. Immer noch schwappt die Übelkeit in stürmischen Wellen durch meinen Körper hindurch und bricht sich hart an meinen Erinnerungen. Ich werde davon immer müder und müder. Mein Körper ist so schwer.

 

Es ist der Augenblick meines Todes und als ich endgültig annehme, was geschehen ist, verwandelt sich die große Leere in grenzenlose Freiheit. Ich liege jetzt ganz ruhig. Nur meine Augenlider heben und senken sich langsam, der Blick ist zum Fenster gerichtet, durch das Fenster hindurch. Ich sehe nichts, nur Helligkeit. Die Ruhe breitet sich immer weiter aus. Ich verlasse meinen Körper sehenden Auges. Eine kleine, weiße Wolke, draußen vor dem Fenster auf einer frühlingsgrünen Wiese mit sanften Hügeln und vielen Blumen. Ein sanftes Pulsieren – leicht aufwärts, leicht abwärts, ohne Gewicht, reine Energie. Der Tod hat alle Kraft, die ich verloren habe, wieder freigesetzt. Ich weiß meinen einstigen Körper hinter mir, doch ich blicke nicht zurück, nur nach vor. Und mit dem, was ich erahne, wird die Vorfreude groß und größer. Diese tiefe Freude

hebt mich nach oben, bis ich mich in einem großen Licht auflöse, aus dem ich irgendwann wieder heraustreten werde, um strahlend in ein neues Leben überzugehen.